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Tagebuch führen Teil 2 – Die therapeutischen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens und die Kraft der Selbstreflexion

Teil 2: Die therapeutischen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens und die Kraft der Selbstreflexion

Nun haben wir schon eine ganze Menge über unsere Innenwelt gelernt und verstanden, wie Gedanken und Gefühle funktionieren und wie sie mit unseren Glaubenssätzen und Gewohnheiten zusammenhängen. Im Folgenden möchte ich erklären, wie dieses psychologische Hintergrundwissen mit dem Tagebuchschreiben einhergeht und wie auch du dieses kraftvolle Tool für dich nutzen kannst.

 

Inhaltsangabe

Die Möglichkeiten des Schreibens

Bereits Anfang der 70er Jahre entdeckte der US-amerikanische Psychologe Ira Progoff das therapeutische Potential des Tagebuchschreibens. 1 Heutzutage verwenden es viele Psychotherapeuten als begleitende Therapieform unter anderem bei Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen und vielem mehr. 2
Darüber hinaus lassen sich sogar einige Symptome körperlicher Krankheiten durch das Schreiben lindern, wie beispielsweise bei Asthma, Bluthochdruck und Arthritis. 3
Hättest du gedacht, dass so viele psychische und körperliche Beschwerden durch das Schreiben verbessert werden können?

Doch grundsätzlich kann das Führen eines Tagebuchs natürlich jedem helfen, der sich persönlich weiterentwickeln möchte. Es ist ein unglaublich starkes Werkzeug, um die eigenen Glaubenssätze und unbewussten Überzeugungen ans Licht zu bringen und hilft uns, Klarheit in unserer oft chaotische Gedanken- und Gefühlswelt zu schaffen. Die wichtigsten Gründe für das Tagebuchschreiben möchte ich hier einmal aufgreifen.

So machst du deine Gedanken greifbar

Wenn wir etwas aufschreiben, verleihen wir unseren inneren Vorgängen eine physische Form. Oftmals sind unsere Gedanken, Ideen und Einfälle sehr flüchtig und so schnell wieder verflogen, dass wir sie gar nicht zu Ende denken und verinnerlichen können. Doch wenn wir einen Stift zur Hand nehmen und diese zu Papier bringen, wird aus vagen Gedanken etwas Reales, das wir nun schwarz auf weiß vor uns haben.
Das führt auch dazu, dass unser Erinnerungsvermögen geschult wird und unsere Gedächtnisleistung steigt. Mit der Zeit erinnern wir uns besser an zurückliegende Ereignisse und es fällt uns leichter, diese in unser Bewusstsein zurückzurufen. 4

Probiere es doch einmal selbst für dich aus. Setze dich hin und schreibe dir einmal ganz bewusst auf, was du zum Beispiel heute noch erledigen möchtest. Du wirst merken, dass es einen ganz anderen Effekt auf dich hat, die Dinge schwarz auf weiß vor dir zu haben, anstatt nur gedanklich eine Liste zu erstellen, von der du wahrscheinlich die Hälfte wieder vergisst. Etwas zu verschriftlichen hilft uns, in die Umsetzung zu gelangen und auch wirklich dahinter zu bleiben.

Perspektivenwechsel

Wie wir bereits lernen durften, ist unsere Wahrnehmung sehr subjektiv und es fällt uns oft schwer, aus unseren selbst erschaffenen Konstrukten auszubrechen. Durch das Schreiben kommen wir mehr in Kontakt mit unserer Innenwelt und lernen, Gedanken und Gefühle bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. So lassen sich auch die eigenen Verhaltensmuster und Gewohnheiten durchschauen, da das bewusste Aufschreiben uns eine andere Sicht der Dinge ermöglicht. Wir sind in der Lage, durch eine objektive Betrachtungsweise Zusammenhänge zu erkennen und unsere Glaubenssätze zu enttarnen.
Auch das spätere Lesen unserer Tagebucheinträge hilft dabei, eigene Erfahrungen nicht aus unserer Sicht, sondern aus der einer 3. Person zu betrachten. Wir können sie lesen, als hätte sie jemand anderes geschrieben und sie somit aus einem unvoreingenommenen Blickwinkel beurteilen.

Verarbeitung und Konfrontation

Durch das Tagebuchschreiben schauen wir unsere inneren Vorgänge bewusst an und setzen uns mit ihnen auseinander, anstatt sie zu verdrängen. Wenn uns im Alltag oft nicht auffällt, dass wir das ein oder andere Mal nicht ganz ehrlich zu uns sind, oder dass wir einer Herausforderung aus dem Weg gehen wollen, so wird es uns spätestens bei der Verschriftlichung bewusst. Somit befassen wir uns aktiv mit der ganzen Bandbreite an Gefühlen, die in uns steckt – auch mit denen, die wir vielleicht gar nicht wahrhaben wollen. Gerade die Konfrontation mit inneren Herausforderungen, wie Ängsten, Zweifeln oder Trauer, macht uns stärker und hilft, Dinge zu verarbeiten und loszulassen.  Auch unbewusste Gefühle können dadurch an die Oberfläche gelangen und von uns verarbeitet werden.

Vielleicht kennst du das ja: Du sprichst mit einer vertrauten Person über etwas Persönliches oder Belastendes und alleine durch deren Zuhören werden dir Dinge bewusst, welche dir vorher gar nicht klar waren. Es müssen nicht einmal die weisen Worte oder Ratschläge der Person sein, die dich auf neue Gedanken bringen, sondern einfach die Tatsache, dass du etwas aussprichst und dir von der Seele redest.  Und genau das passiert auch beim Schreiben. Du setzt dich mit Dingen auseinander, die in dir schlummern und holst sie an die Oberfläche. Dein Tagebuch ist ein neutraler Zuhörer, welcher einfach akzeptiert und nichts bewertet.

Ordne deine Gedanken

Hast du auch manchmal das Gefühl, nicht einmal selbst zu verstehen, was du eigentlich gerade denkst, fühlst oder willst? Auch hier hilft das Schreiben, denn es verleiht unseren verwirrten Gedanken- und Gefühlströmen eine gewisse Struktur. Das passiert ganz automatisch während des Schreibprozesses und kann dir vor allem bei wichtigen Entscheidungen Klarheit verschaffen. Dadurch fällt es dir später auch leichter, deine Anliegen mit anderen zu teilen und ihnen verständlich zu machen, was in dir vorgeht. Das heißt, deine kommunikativen und rhetorischen Fähigkeiten werden verbessert und dein Wortschatz erweitert. 5

Persönlichkeitsentwicklung

Indem wir uns durch das Schreiben mit unseren persönlichen Ängsten und Wünschen befassen, kommen wir in eine Routine der Selbstreflexion. So können wir den eigenen Prozess beobachten und durch das Lesen alter Tagebucheinträge unsere Entwicklung und Fortschritte rückverfolgen. Dadurch, dass wir uns darüber bewusstwerden, was in unserem Leben gut läuft, trainieren wir auch unsere Dankbarkeit sowie den Fokus auf das Positive. 6 Hierbei hilft uns auch das Verschriftlichen der eigenen Visionen und Ziele, Motivation zu schöpfen und in die Verwirklichung zu kommen.

Im Laufe der Zeit wird sich auch unser Problemlösungsverhalten und der Umgang mit Herausforderungen ändern. 7 Wir sehen, was und wie wir die Dinge gemeistert haben, und das stärkt Selbstvertrauen. Wir haben den Beweis schwarz auf weiß, den ganzen Prozess vor uns - wie wir anfangs vielleicht gestruggelt haben und nicht wussten, wie wir mit der Situation umgehen sollen, doch letztendlich haben wir einfach weitergemacht und immer einen Weg gefunden. Aus jeder Herausforderung gehen wir stärker hervor und es wird immer klarer, dass wir niemals verlieren, sondern nur wachsen und lernen können.

An dieser Stelle möchte ich kurz meine persönliche Erfahrung mit euch teilen, denn auch für mich hat das Tagebuchschreiben eine sehr tiefgreifende Bedeutung.
Ich führe nun seit mehr als fünf Jahren Tagebuch und das regelmäßige Schreiben hat einen unglaublich großen Anteil meines persönlichen Wachstums ausgemacht. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass ich nicht weiß, wo ich ohne das Schreiben heute stehen würde. Es hat mir geholfen, mehr Klarheit über mich, meine Emotionen und Verhaltensmuster, aber auch über meine großen Träume und Visionen zu schaffen.
In schwierigen Situationen hat es mir geholfen, eine Lösung zu finden und in traurigen Momenten, den persönlichen Lebenssinn nicht aus den Augen zu verlieren. Es war mein treuer Begleiter und Gesprächspartner auf all meinen Reisen, auf denen so viele Dinge passierten, die ich unbedingt teilen wollte, doch all meine Liebsten waren am anderen Ende der Welt. Wenn sonst niemand da war, so war es mein Tagebuch. Ich schrieb voller Freude, Wut, Sehnsucht und Trauer, mit Tränen in den Augen, welche auf das Papier kullerten. Ich gab meine komplette Lebensenergie in mein Tagebuch hinein, und dort ist sie nun verewigt.
In einer Ecke meines Kleiderschrankes habe ich nun einen ganzen Stapel vollgeschriebener Tagebücher, so wie ich diese Worte tippe, dürften es an die 15 Stück sein. Sie sind das Persönlichste, das ich besitze, hier habe ich meine gesamten Erfahrungen, meine Gedanken, Gefühle, meinen kompletten Werdegang der letzten Jahre schwarz auf weiß. Es ist fast so, als ob ein Teil von mir in diesen Büchern steckt.

Tipps und Techniken

Für das Führen eines Tagebuchs gibt es eine Menge verschiedener Herangehensweisen. Es ist eine sehr persönliche Art des Ausdrucks und deshalb hat natürlich auch jedes Tagebuch seinen individuellen Stil. Welche Methode zu dir passt, kommt ganz darauf an, was du mit dem Tagebuchschreiben erreichen willst.
Möchtest du persönliche Herausforderungen verarbeiten? Deine Gedanken umstrukturieren? Oder einfach mal drauflosschreiben und sehen, was dabei herauskommt?
Im Folgenden habe ich einige Techniken zusammengestellt, die dir den Einstieg in das Tagebuchschreiben erleichtern sollen.

Expressives Schreiben

Es ist wohl kaum eine Methode des Journalings wissenschaftlich besser untersucht als das expressive Schreiben, auch bekannt als therapeutisches Schreiben. Entwickelt wurde es in den 80er Jahren von den Psychologen James Pennebaker und Joshua Smyth. Es soll dazu dienen, sich emotionalen Ballast von der Seele zu reden und mit psychischen Herausforderungen auseinanderzusetzen.
Der Kern dieser Methode beinhaltet vor allem die möglichst genaue und ehrliche Beantwortung folgender Fragen:

  1. Was ist passiert?
  2. Wie fühle ich mich deswegen?

Pennebaker und Smyth stellten im Zuge ihrer Forschungen fest, dass die Proband:innen, welche das expressive Schreiben praktizierten, in den Folgemonaten nur noch halb so häufig einen Arzt aufsuchen mussten wie die Kontrollgruppe. Darüber hinaus können psychische Traumata besser geheilt und persönliche Erfolge maximiert werden. 8

Erfolgs-Journal

Diese Technik konzentriert sich vor allem auf die persönlichen Erfolge und die Verwirklichung der eigenen Visionen und Ziele. Sie hilft dir dabei, Herausforderungen zu meistern und die eigene Entwicklung festzuhalten. Es geht darum, abends vor dem Schlafengehen den Tag mithilfe folgender Fragen zu reflektieren:

  • Warum bin ich heute besonders stolz auf mich?
  • Was habe ich heute erreicht? (Ziele, Meilensteine)
  • Habe ich vielleicht schöne Kompliment bekommen?

Du musst hier keine bahnbrechenden Erfolge nennen. Das Wichtigste ist, deine kleinen Fortschritte zu dokumentieren, um dich Schritt für Schritt näher an deine großen Träume heranzutasten.

Dankbarkeitstagebuch

Auch bei dieser Methode werden jeden Abend vor dem Schlafengehen Fragen beantwortet, die dir dabei helfen, die persönlichen Glücksmomente festzuhalten. Diese Fragen können zum Beispiel sein:

  • Wofür bin ich heute dankbar?
  • Was ist heute Schönes passiert?

Auch hier müssen deine Antworten nichts Weltbewegendes sein – schon kleine Erfolge oder Momente, in denen du dich einfach wohlgefühlt hast, können hier beschrieben werden. Zum Beispiel ein leckeres Frühstück im Bett, die warmen Sonnenstrahlen auf dem Weg zur Arbeit oder ein freundliches Lächeln einer fremden Person auf der Straße.
Durch das Reflektieren der positiven Erlebnisse wird deine persönliche Lebensfreude und der Fokus auf die kleinen, schönen Momente gestärkt. Das ist sehr wichtig, denn wie du bereits erfahren hast, neigen wir gerne mal dazu, uns in negativen Gedanken zu verlieren, anstatt den Fokus auf das Positive zu richten.

Dabei hat das Umfokussieren auf die positiven Momente einen enormen Einfluss auf unsere gesamte Lebensqualität. Denn mit einer optimistischen Grundeinstellung sind wir automatisch empfänglicher für die schönen Dinge, die uns tagtäglich begegnen.
Und dabei geht es nicht darum, mit einer rosaroten Brille durch die Welt zu laufen. Es geht vielmehr darum, uns darüber bewusst zu werden, wofür wir dankbar sein dürfen und welche wunderbaren Dinge uns Tag für Tag passieren, wenn wir darauf achten und diese auch zulassen. Außerdem gibt es in den meisten Fällen kein schwarz oder weiß. Es kommt darauf an, mit welchem Blickwinkel wir etwas betrachten und wie wir mit den Situationen umgehen, die uns im Außen begegnen. Wir können die Dinge nicht ändern, doch was wir ändern können, ist unsere eigene Reaktion darauf.

Fazit

Tagebuchschreiben ist eine sehr persönliche Angelegenheit und es gibt hier definitiv kein richtig oder falsch. Wichtig ist, dass du dir einen geschützten Raum schaffst, indem du ausdrücken kannst, was dir auf dem Herzen liegt. Hier existieren keine Sprachnormen wie Grammatikregeln, Rechtschreibung oder Schönschrift. Schließlich schreiben wir ja nicht für die Öffentlichkeit, sondern für uns selbst und wollen den eigenen Gedankenfluss möglichst unzensiert festhalten.
Ich persönlich orientiere mich meistens an keinerlei bestimmter Technik. Ich schreibe einfach das, was mich gerade beschäftigte und was ich festhalten möchte. Das können Erfahrungen, Gedanken oder Emotionen sein, aber auch persönliche Ziele, Wünsche und Visionen.
Es kann aber natürlich auch sehr sinnvoll sein, eine bestimmte Herangehensweise zu wählen. Bevor du dich jedoch an der Qual der Wahl aufhängst, ist es viel wichtiger, einfach mal loszulegen. Mit der Zeit wirst du merken, welche Methode zu dir passt und dir guttut. Also ran an die Feder und probier dich aus!

Hast du Erfahrungen mit dem Tagebuchschreiben?
Wie gehst du dabei am liebsten vor?
Ich freue mich auf deinen Kommentar! 😊

MERCI an dieser Stelle an Leilah, Autorin dieses Blogartikels, angehende Heilpraktikerin und Teilnehmerin unseres Copywriting-Mentorings "Clear Words - Schreib´ dich frei!". Nimm gerne persönlich Kontakt zu ihr auf: heilsames.schreiben@web.de

Du hast noch persönliche Fragen an uns? Dann schreib´ Jana und mir eine Nachricht oder schau´ direkt auf unserer Website vorbei: https://brandyourvoice.de/

Literatur und Quellen

1 https://www.intensivejournal.org/AboutUs_iraprogoff.php

2  Smyth JM, Johnson JA, Auer BJ, Lehman E, Talamo G, Sciamanna CN. Online Positive Affect Journaling in the Improvement of Mental Distress and Well-Being in General Medical Patients With Elevated Anxiety Symptoms: A Preliminary Randomized Controlled Trial. JMIR Ment Health. (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6305886/)

3  American psychological association (https://www.apa.org/topics/trauma/writing-benefits).
Smyth JM, Stone AA, Hurewitz A, Kaell A. Effects of writing about stressful experiences on symptom reduction in patients with asthma or rheumatoid arthritis: a randomized trial.  (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10208146/)

4 Kitty Klein. Expressive writing can increase working memory capacity. North Carolina State University. (https://www.researchgate.net/publication/11785938_Expressive_writing_can_increase_working_memory_capacity)

5 Reza Falahati.The relationship between Student's IQ and their ability to use transitional words and expressions in writing. University of Victoria, B.C., Canada. https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.3102/00346543066001053

6 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12585811/

7  PsychCentral. The Mental Health Benefits of Journaling. (https://psychcentral.com/lib/the-health-benefits-of-journaling)

8  Die Geschichte des Expressiven Schreibens: Pennebaker, James W., Smyth, Joshua M. (3. Auflage, 2016). Opening Up by Writing It Down.

Weitere Quellen

Bräuer, Gerd (2003): Schreiben als reflexive Praxis. Tagebuch, Arbeitsjournal, Portfolio. 2., unveränderte Auflage. Freiburg im Breisgau: Fillibach-Verlag.

Ellner, Heidi/Oeder, Kathrin (2020): Reflexionsprozesse sichtbar machen – Visualisierung in der Beratung.

Deine autorin Leilah Förster
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